Diese Lesung war ein stiller Höhepunkt der Veranstaltungen zum 150-jährigen
Jubiläum. Dieter Zinßer, der ehemalige Vorsteher der Henriettenstiftung,
und Heinz Kattner, der Schriftsteller, sowie die Cellistin Monika Herrmann trafen
sich auf dem Salemsfriedhof zur Lesung von Texten von und über Hilde Schneider.
Gut 30 Zuhörende hatten sich am Sonnabend, 3. Juli 2010 um 16.00 Uhr eingefunden im Zelt nahe dem Grab
von Hilde Schneider, trotz des zeitgleich stattfindenden Fußballspiels.
Ihre Lebensgeschichte, die auch mit Verstrickungen und Schuld der Henriettenstiftung
zu tun hat, stand im Mittelpunkt. Sie wollte Diakonisse werden in den dreißiger
Jahren, durfte es aber nicht, weil die Rassegesetze der Nazis sie zur Jüdin machten.
So überwogen die leisen Töne: Leise, immer näher kommend, klingen
die Cello-Improvisation durch die Grabreihen des Salemsfriedhofs, auf dem die Diakonissen
ihre letzte Ruhestätte finden. Die Musik kommt näher, die Musikerin wird
jetzt sichtbar; sie findet ihren Platz am Podium vor dem Lesezelt. „Sie ist
nach Hause gekommen. Hilde Schneider“, sagt Dieter Zinßer. Sie wollte
hier beerdigt werden. Sie hat trotz ihrer entsetzlichen Erfahrungen die Verbindung
zur Stiftung nie abreißen lassen. Bei ihrer Beerdigung, 2008, hat die damalige
Landesbischöfin Margot Käßmann gesagt: „Wir sind dankbar für
das ungeheure Glaubenszeugnis dieser Frau… Sie erlebte die Berufung nachhaltiger
als die Zurückweisung durch Menschen und durch die Institution Kirche.“
Wie ein Motiv stellt Heinz Kattner seinen Gedichten und Gedanken ein unveröffentlichtes Gedicht voran, das hier erstmals veröffentlicht werden darf:
Alte Fragen
Morgen kann
eine Frage sein.
Von gestern kommt
die Antwort
von lange her
von weit zurück
Und die Antwort
Kommt leise
Klingt fern
Atmet fremd
Ist aber immer eine
Glaubenslänge voraus
Wieder klingen die Töne über den Friedhof. Menschenstimmen, Celloklänge
– mal harmonisch, mal disharmonisch, mal schrill, mal wohltuend. Dazwischen
das Schlagen eines Finken, Autos rauschen vorbei. Wind schafft nur leichte Kühlung
im Schatten hoher Bäume.
„Es ist besser für Sie.“ So hatte der Wirtschaftsleiter ihr wenige Tage nach der Pogromnacht 1938 gesagt. Sie soll die Henriettenstiftung verlassen. Der Vorsteher bestätigt diese Aussage. Sie macht ihre Schwesternausbildung im jüdischen Krankenhaus zu Ende. Später, als sie im Gottesdienst zur Einsegnung ihrer Mitschwestern ist, wird ihr ausgerichtet, sie solle auch am Gottesdienst nicht mehr teilnehmen. Sie findet eine neue Bleibe, aber nur bis zur Deportation am 15. Dezember 1941. Sie wird nach Riga verschleppt. Von den tausend Deportierten kommen am Ende nur vierzig zurück.
Sie überlebt – mit Hilfe der Bibel. Die Morgenstunden, so erzählt sie
später, waren für sie die schwersten des Tages. Sie lernt die Bibel kennen,
macht Notizen mit einem Bleistift. Jedes Wort wird ihr wichtig. Sie liest es als
Interpretation ihres schrecklichen Ghettolebens. Die Bibel wird ihr zum täglichen
Brot. Sie macht ihr Mut. So notiert sie unter der sie bedrängenden Frage nach
Gottes Liebe: „Womit hast du, Gott, uns lieb?“ Die verborgene Liebe gewinnt
für sie an Bedeutung. Das sichtbare Wohlleben der Gegner in den Psalmen wird
zur Chiffre für die SS-Bewacher. „Dennoch bleibe ich stets an dir; denn du
hältst ich bei meiner rechten Hand…“ (Ps. 73, 23ff) Viele Seiten
ihrer Bibel hat sie mit Bleistiftnotizen gefüllt. Dieses Exemplar bleibt ihr
erhalten trotz vieler Durchsuchungen durch die SS. Bis zum Schluss.
Anfang Mai 1945 hört sie von der Befreiung Berlins und dem Ende des Krieges.
Erst da wird ihr bewusst, dass sie Schreckenszeiten im Ghetto und KZ überlebt
hat. Das wird ihr zum Symbol für das weitere Leben: Sie versteht diese Zeit dort
als Vorbereitung für ihre eigentliche Berufung: Künftig möchte sie Frauen
in Gefangenschaft betreuen. So wird sie – nach Abitur und Studium –
Theologin und Seelsorgerin in einem Frauengefängnis in Frankfurt. Sie ist ihrer
Berufung treu geblieben.
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